

Polyvagale Manuelle Therapie
Was kann die manuelle Therapie zur Wiederherstellung der Funktion des Nervus vagus beitragen und warum ist er so wichtig? Manuelle und osteopathische Methoden werden seit langem erfolgreich bei der Behandlung von Funktionsstörungen vieler Gewebe, einschließlich peripherer Nerven, eingesetzt. Der Nervus vagus, mit seinen zahlreichen Verzweigungen und ebenso vielfältigen Funktionen, bildet eine faszinierende Brücke zwischen Körper und Psyche, Darm und Gehirn, viszeralen Funktionen und deren autonomer Regulation, Stimme, Atmung und Emotionen... Durch die Normalisierung aller Teile dieses äußerst komplexen Systems streben wir eine ausgewogene und stabile Funktion an und üben damit nicht nur lokal, sondern ganzheitlich Einfluss auf den Menschen aus.
Einführung in die Polyvagal-Theorie
Die Polyvagal-Theorie, entwickelt von Dr. Stephen Porges, bietet ein revolutionäres Modell zum Verständnis des autonomen Nervensystems und seines Einflusses auf unser körperliches und emotionales Wohlbefinden. Das autonome Nervensystem besteht aus drei Hauptzweigen, die sich in verschiedenen Phasen der evolutionären Geschichte entwickelt haben:
1. Ventral-vagales System (soziale Vagus). Das evolutionär jüngste System, das mit sozialer Kommunikation und Selbstregulation verbunden ist. Es wird im Zustand der Sicherheit aktiviert, fördert soziale Interaktion, ermöglicht Erholung, Verdauung und die Pflege prosozialer Beziehungen.
2. Sympathisches Nervensystem. Verantwortlich für die Mobilisierung des Körpers in Stresssituationen durch Aktivierung der „Kampf- oder Flucht“-Reaktionen. Es bereitet den Körper auf Handlungen bei wahrgenommener Bedrohung oder Gefahr vor.
3. Dorsal-vagales System (primitiver Vagus). Das älteste System, verbunden mit Erstarrungs- und Dissoziationsreaktionen. Bei extremer Belastung verlangsamt es die Stoffwechselprozesse und schont die lebenswichtigen Ressourcen durch Immobilisation.
Ein zentrales Prinzip der Polyvagal-Theorie ist die Hierarchie dieser Systeme: Bei Bedrohung versucht der Organismus zunächst soziale Interaktion (ventraler Vagus), dann aktiviert er das sympathische System, und nur im äußersten Fall schaltet er auf eine dorsale Vagus-Reaktion um.
Manifestationen von Störungen der Vagus-Funktion
Systemische Störungen
- Chronische Entzündungsprozesse, da der Nervus vagus an der Regulation von Entzündungen beteiligt ist
- Autoimmunerkrankungen
- Störungen der Herzratenvariabilität
- Probleme mit der Thermoregulation
Emotionale und psychologische Manifestationen
Eine niedrige Vagus-Tonus steht in engem Zusammenhang mit psychischen Störungen:
- Unfähigkeit, mit Stresssituationen umzugehen
- Schlechter Schlaf und Müdigkeit – der Nervus vagus ist mit erholsamem Schlaf verbunden
- Depressionen und Angstzustände
- Probleme mit der Emotionsregulation
- Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen
- Verminderte Fähigkeit zur Selbstberuhigung
Körperliche Symptome
Eine Dysfunktion des Nervus vagus äußert sich in einer Vielzahl körperlicher Symptome:
- Sprach- und Schluckstörungen: Schwierigkeiten beim Sprechen, Stimmlosigkeit, Probleme beim Schlucken von Flüssigkeiten
- Verlust von Reflexen: Verminderung oder Fehlen des Würgereflexes
- Kardiovaskuläre Manifestationen: Unregelmäßiger Herzschlag, Blutdruckstörungen
- Verdauungsstörungen: verminderte Magensäureproduktion, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Bauchschmerzen, unerklärlicher Gewichtsverlust
- Ohrsymptome: Ohrenschmerzen durch Beteiligung des aurikulären Astes des Nervus vagus
Wichtige Anzeichen, auf die man achten sollte: Verdauungsprobleme, Stimm- oder Schluckprobleme, Herzklopfen und Schwierigkeiten beim Beruhigen. Tests wie die Herzratenvariabilität können ebenfalls Vagus-Dysfunktionen messen.
Manuelle und osteopathische Methoden zur Beeinflussung des polyvagalen Systems
Direkte Arbeit an Nervenstrukturen
Arbeit mit Hirnnerven. Der osteopathische Ansatz umfasst direkte neurale Manipulationen und neurodynamische Techniken, die sich auf folgende Nerven richten:
- Nervus vagus (X) und seine Verzweigungen
- Nervus trigeminus (V), der die Gesichtsmuskeln innerviert
- Nervus facialis (VII), der die mimische Muskulatur kontrolliert
- Nervus accessorius (XI), der den M. sternocleidomastoideus und den M. trapezius innerviert
Techniken für sympathische Strukturen. Arbeit mit der sympathischen Kette und den Spinalnerven durch:
- Direkte neurale Techniken an der Brust- und Lendenwirbelsäule
- Faszientechniken in paravertebralen Bereichen
- Mobilisationstechniken für costovertebrale Gelenke
Parasympathisches sakrales Plexus. Spezialisierte Techniken, die auf die sakralen parasympathischen Fasern gerichtet sind, welche die Beckenorgane innervieren.
Wiederherstellung der Funktionen des sozialen Vagus durch Arbeit mit den von ihm innervierten Geweben

Gesichtsmuskeln. Faszientechniken zur Wiederherstellung des Tonus und der Beweglichkeit der Gesichtsmuskeln:
- Massage der Gesichtsmuskeln und Akupressurpunkte
- Myofasziale Release-Techniken des mittleren Gesichtsbereichs (zwischen Augen und Mund)
- Arbeit mit Kaumuskeln und Kiefergelenk
Okulomotorisches System. Osteopathische Techniken zur Verbesserung der Funktionen der Augenbewegungsnerven und zur Wiederherstellung des Blickkontakts – ein wesentlicher Bestandteil sozialer Interaktion.
Strukturen von Hals und Ohren
- Arbeit mit Muskeln und Faszien des Kehlkopfes und des Rachens
- Techniken zur Stimulation der Vagusfasern im äußeren Ohr (besonders im Tragusbereich)
Beseitigung von Dysfunktionen der inneren Organe
Es ist wichtig zu beachten, dass 75 % der Fasern des Nervus vagus Signale von den Organen ins Zentrum transportieren. Daher ist der Zustand der inneren Organe entscheidend für die Funktion des gesamten polyvagalen Systems.
Beseitigung chronischer Reiz- oder Hemmfaktoren:
- Korrektur von Dysfunktionen, die pathologische Signale über die afferenten Bahnen des Nervus vagus senden können
- Normalisierung viszero-somatischer Reflexe
Viszerale Osteopathie der Bauchhöhle:
- Arbeit an der Beweglichkeit der Verdauungsorgane
- Techniken zur Normalisierung der Funktionen von Leber, Magen und Darm
- Arbeit mit Mesenterium und viszeralen Faszien
- Normalisierung der Funktion der Nervenplexus der inneren Organe
Arbeit mit den Organen der Brusthöhle:
- Besondere Aufmerksamkeit auf das Zwerchfell und die Wiederherstellung der Atemmechanik des Brustkorbs
- Techniken für Herz und Perikard
- Arbeit mit Lunge und Pleura
- Mobilisation des Mediastinums
Korrektur von Dysfunktionen des Bewegungsapparates
Es ist ebenso wichtig, Dysfunktionen des Bewegungsapparates zu behandeln, die sich negativ auf die Aktivität verschiedener Teile des autonomen Systems auswirken können, z. B. Wirbelsäule (insbesondere Halswirbelsäule), Rippen, Faszien und Muskeln.
Arbeit mit der Wirbelsäule:
- Besondere Aufmerksamkeit auf die Halswirbelsäule, wo wichtige autonome Strukturen verlaufen
- Sanfte Techniken zur Behandlung von Atlas- und Axis-Dysfunktionen
- Korrektur thorakaler und lumbaler Dysfunktionen, die die sympathische Aktivität beeinflussen
Arbeit mit Rippen und Atemstrukturen:
- Korrektur von Rippenfehlfunktionen, die die Atmung beeinflussen
- Techniken für Zwischenrippenmuskeln und Faszien
Spezifische Arbeit mit Muskeln, die vom Nervus accessorius innerviert werden:
- M. sternocleidomastoideus
- M. trapezius
- Sowie Release der subokzipitalen Muskulatur
Faszientechniken:
- Arbeit mit oberflächlichen und tiefen Faszienschichten
- Myofasziale Release-Techniken zur Reduzierung der allgemeinen Spannung im System
Polyvagale Manuelle Therapie als Teil eines integrativen Ansatzes
Die polyvagale manuelle Therapie und die Osteopathie sind ein wesentlicher Bestandteil eines ganzheitlichen Ansatzes zur Wiederherstellung der ausgewogenen Funktion des autonomen Nervensystems. Diese Methode zielt darauf ab, die optimale Arbeit der Regulationsmechanismen des Körpers wiederherzustellen, was positive Auswirkungen auf folgende Bereiche hat:
- Die psycho-emotionale Sphäre
- Die humorale Regulation
- Das Hormonsystem
- Die Immunfunktion
- Die Verdauung und den Stoffwechsel
Synergie mit anderen therapeutischen Ansätzen
Um die maximale therapeutische Wirkung zu erreichen, wird die polyvagale manuelle Therapie effektiv kombiniert mit:
- Somatische Übungen: Körperbewusstseinstechniken, Entwicklung der Propriozeption, Qigong
- Atemübungen: Zwerchfellatmung, Techniken zur Verlängerung der Ausatmung, Wim-Hof-Methode und andere
- Andere Methoden zur Vagus-Aktivierung, einschließlich Kälteexposition und Kehlkopf-Übungen
- Autogenes Training: Methode zur Selbstregulation und Entspannung
- Traumabearbeitung: Integration traumatischer Erfahrungen durch körperorientierte Ansätze, einschließlich EMDR
Es ist wichtig zu betonen, dass der Therapeut selbst, um dem Patienten helfen zu können, in einem ausgeglichenen und widerstandsfähigen Zustand sein sollte. Das bedeutet, dass er seine eigenen aktuellen Zustände gut unterscheiden und in hohem Maße sein eigenes autonomes Nervensystem regulieren können muss. Einige der empfohlenen Methoden finden Sie im Abschnitt „Methoden“.
Die manuelle Therapie im Rahmen des polyvagalen Ansatzes beseitigt nicht nur Symptome, sondern zielt auf die Wiederherstellung der natürlichen Fähigkeit des Nervensystems zur Selbstregulation, sozialen Interaktion und Anpassung an veränderte Umweltbedingungen ab. Diese integrative Sichtweise beantwortet die Frage, die sich alle fortgeschrittenen Osteopathen und andere Ärzte stellen: „Was können wir für den Patienten als ganzen Menschen und zugleich als äußerst komplexes Selbstregulationssystem tun, das von Natur aus die Fähigkeit besitzt, nicht nur zu überleben, sondern in dieser sich ständig verändernden Welt zu gedeihen?“
☛ Osteopathische Viszerale Manipulationstechniken.
☛ Stecco-Methode der faszialen Manipulationstechniken.